Texte über Virginia Satir

 

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Sonderausgabe zum 10-jährigen Todestag von Virginia Satir
   Nr. 2 / 98,  August 1998         7. Jahrgang
 

  Impressum:
Redaktion und verantwortlich für den Inhalt: Gerd F. Müller
 
Herausgeber:
Münchner Familienkolleg - Geschäftsstelle Egenburg, Mühlstraße 6, D-85235 Pfaffenhofen/Glonn
Tel.: 08134 / 92 363, Fax: 08134 / 92 365
 
Copyright 1998 by Münchner Familienkolleg.
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion und des Junfermann-Verlags.
Wir danken dem Junfermann-Verlag für die Erlaubnis zum Abdruck der nachstehenden Beiträge.
   
  

Einleitung

     Virginia Satir war in den 70er Jahren unsere wichtigste Lehrerin in den Bereichen Kommunikation, Selbstwert und Familientherapie. Wir beide hatten Erfahrungen in der Arbeit mit Familien, jedoch speziell mit Hilfe des verhaltenstherapeutischen Vorgehens. Als wir ca. 1970 das Buch "Peoplemaking" (der deutsche Titel "Selbstwert und Kommunikation" gibt die von Virginia kreierte englische Wortschöpfung leider auch nicht nur annähernd wider), wussten wir, was wir in unserer Arbeit mit Familien hinzufügen sollten. Diese Idee war die Vorstufe zur Gestaltung des Präventiven Elterntrainings PET (1976), des ersten Trainings in Deutschland für Familien, das sowohl lernpsychologische als auch kommunikative Bausteine zum Inhalt hatte.
     Zeitgleich lasen wir Virginias früher erschienenes Fachbuch - leider blieb es ihr einziges - "Conjoint Family Therapy" (1967), deutsch "Familienbehandlung". Wir versuchten - u. a. im Rahmen einer selbstorganisierten Peer-Gruppe - erste familientherapeutische Schritte und probierten die uns faszinierenden Ideen von Virginia einfach aus.
     Spannend, mitreißend, aufregend, erfrischend, anregend, erquickend, inspirierend, beflügelnd, humorvoll - um nur einige der Adjektive zu nutzen - verlief dann unser erstes persönliches Zusammentreffen mit Virginia. Es war 1974 in der Schweiz mit einer Gruppe von etwa 15 Personen. Virginia lehrte uns einige Tage ihre Ideen von menschlicher Kommunikation. Eines Mittags luden wir sie zu einer Spazierfahrt in die Umgebung und zu einem Picknick im Grünen ein. Wir fanden recht schnell Kontakt zueinander, verstanden uns so als ob wir uns bereits seit Jahren kennen würden, alles geschah einfach und ganz natürlich - ohne Starallüren.
     So unspektakulär begann eine Jahre währende Freundschaft zwischen Virginia und uns. Wir besuchten sie in den folgenden Jahren in den USA, Kanada, Israel, Frankreich, Tschechoslowakei und Deutschland.
     In den ersten Jahren lernten wir von ihr durch Beobachten, Mitmachen in zum Teil vierwöchigen großen Seminaren. Erst viel später - weil uns der private Kontakt mit Virginia bedeutsamer war als der professionelle - luden wir sie dann zu großen Seminaren zu uns nach München ein. Mit jeweils ca. 90 Teilnehmern/innen zeigte sie 1983, 1985 und 1987 ihre Kreation der Familienrekonstruktion. Anlässlich unserer ersten Veranstaltung mit ihr wurden Aufnahmen zur Fernsehserie "Wege zum Menschen" gemacht. 1986 waren wir beide Trainer in der ersten europäischen Process Community.
 
     Der Einfluss von Virginia hat sich selbstverständlich auf die inhaltliche Gestaltung unserer dreijährigen Weiterbildung ausgewirkt. Von 1979 bis 1994 nannten wir sie deshalb "Weiterbildung in strukturell- (Minuchin war ein weiterer wichtiger Lehrer) und wachstumsorientierter Familientherapie". Obwohl wir im Laufe der vergangenen 20 Jahre die inhaltlichen und methodischen Schwerpunkte entsprechend unserer eigenen therapeutischen und theoretischen Entwicklung wiederholt verändert haben, indem wir wichtige Elemente vor allem aus den systemischen Modellen und dem lösungsorientierten Ansatz in unsere therapeutische Praxis und Lehre aufnahmen, behielten wir die ursprüngliche Bezeichnung bei.
     1995 entschlossen wir uns dann, die methodischen Veränderungen auch im Namen der Weiterbildung zum Ausdruck zu bringen. Wir nennen sie jetzt: "Weiterbildung in systemischer Therapie und Beratung: Integrativ-systemisches Arbeiten mit Familien, Paaren und anderen sozialen Systemen."
     Wenngleich im aktuellen MFK-Weiterbildungsmodell die Vorgehensweisen von Virginia nur noch einen relativ geringen Anteil haben, bleibt für unsere Arbeit gleichwohl das Menschenbild Virginias wegweisend. Grundannahmen des lösungsorientierten Ansatzes weisen bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit Virginias Ideen auf.
 
Zurück zu Virginia:
     Es gäbe viel über Virginia zu erzählen - Privates und Berufliches. Wir haben privat mit Virginia zahlreiche fröhliche und auch anstrengende Tage und Stunden in unserem Haus und bei Ausflügen verbracht. Wir hatten das Privileg, sozusagen unzensiert hinter die Kulissen zu schauen und dabei nicht nur die unermüdlich erscheinende "Promotorin" zu sehen, sondern Facetten des  Menschen Virginia kennenzulernen.
 
     Die folgenden Artikel sollen bei denjenigen, die Virginia erleben konnten, Erinnerungen wachrufen, bei jenen, die sie "nur" aus Büchern und Videoaufnahmen kennen, das Bild ergänzen helfen und ein Zeichen unserer Wertschätzung für Virginia sein.

Gaby Moskau und Gerd F. Müller
Virginia-Satir-Gesellschaft e.V.


 

Gerd F. Müller und Gaby Moskau:
Ein Portrait von Virginia Satir:
26. Juni 1916 - 10. September 1988

Quellenangabe:
Dieser Artikel erschien in Maria Bosch, Wolfgang Ullrich (Hrsg.):
Die entwicklungsorientierte Familientherapie nach Virginia Satir. Junfermann-Verlag Paderborn, 1989.

     Virginia Satir, die große und berühmte Pionierin der Familientherapie, ist am 10. September 1988 in Palo Alto gestorben. Viele waren überrascht, als sie hörten, daß sie bereits 72 Jahre alt war. Ihre Beweglichkeit, ihre Leichtigkeit, ihr Charme und die immer von ihr ausstrahlende Lebensfreude, vermittelten den Eindruck einer Frau mittleren Alters und manchmal schien sie alterslos zu sein.
     Wir lernten Virginia 1974 in der Schweiz kennen. Während eines Spaziergangs und einem Picknick schwärmte sie von ihrer Idee einer Welt-Universität, die sie gründen wollte. Seit diesem denkwürdigen Spaziergang hat Virginia sowohl unser privates als auch unser professionelles Leben nachhaltig beeinflusst. Diese einzigartige Frau, unter anderem als weiblicher "Kolumbus der Familientherapie" bekannt, schätzten wir als Lehrerin, Schriftstellerin, Künstlerin, Zauberin, Animateurin, Schauspielerin, Komödiantin, bescheidene Frau, Weltreisende in Sachen Selbstwert und Kommunikation und vieles mehr. Viele Teile und Gesichter lernten wir in den vergangenen 14 Jahren kennen - als Lernende in ihren Seminaren im In- und Ausland und als Veranstalter ihrer Seminare am Münchner Familienkolleg. 1985 inszenierten die Teilnehmer eines ihrer Workshops bei uns zum Abschluss eine riesige Parts Party für Virginia und repräsentierten etwa 75 Teile ihrer Persönlichkeit in lustiger und kreativer Weise. Während einer solchen "Party" - die Virginia für therapeutische Arbeiten entwickelte - hat eine Person die Gelegenheit, gegensätzliche Teile ("parts") der eigenen Persönlichkeit in einem Prozess ("party") zu erleben und zu integrieren, um sie harmonischer nutzen zu können. Wir möchten in diesem Artikel Virginias Vielseitigkeit in Anlehnung an die Parts Party ansatzweise darstellen:
  

Virginia - die Mitbegründerin der Familientherapie und schöpferische Therapeutin

     Die Familientherapie hat mehrere Väter; doch ihre einzige Mutter ist Virginia! Sie war die erste maßgebende Frau in diesem Bereich und ein wichtiges Rollenmodell für viele Frauen, die in den späteren Jahren im weiten Feld der Familientherapie folgten. John Weakland (1983) sagte:"... ich möchte etwas ... hervorheben, das ich beobachtet habe und was für mich eine überraschende Entdeckung war. Etwas, worin Virginia sehr Don Jackson ähnelt ... Bis ich die beiden kennenlernte, wusste ich nicht, dass das Wort Promotor eine so positive Bedeutung haben könnte. Virginia und Don sind beide Promotoren. Wenn es sie nicht gegeben hätte, gäbe es vielleicht die Familientherapie als Behandlungstechnik, aber sie hätte nicht diese weitreichende Bedeutung erlangt."
     Virginia war die berühmte Sozialarbeiterin, die in den 50er Jahren als einzige Frau in der therapeutischen und wissenschaftlichen Männerwelt den Mut hatte, Risiken einzugehen, um Neues in Bezug auf Individuen und Familien auszuprobieren. 1951 eröffnete sie eine private Praxis und "sah" ihre erste Familie. Sie erzählte darüber: "Ich war eine Frau und hatte keine medizinische Ausbildung, deshalb kamen hauptsächlich Leute zu mir, die entweder von anderen Therapeuten weggeschickt oder die als schwer therapierbar eingestuft wurden." Irgendwann in den folgenden Jahren "erfand" sie zufällig die multiple Familientherapie, als sie versehentlich mehrere Familien zur gleichen Zeit einbestellte. 1955 arbeitete sie am Illinois Psychiatric Institute und brachte den Mitarbeitern "die neuen Ideen" nahe: nicht nur mit einzelnen Patienten, sondern zusammen mit ihren Familien zu arbeiten. 1959 gründete sie gemeinsam mit Jules Riskin und Don Jackson das Mental Research Institute in Palo Alto und startete 1962 das erste Familientherapie-Trainingsprogramm in den USA.
 
     Zwischen 1964 und 1968 lehrte sie am Esalen Institute in Big Sur, dessen Direktorin sie 1968 wurde. 1972 begann sie ihre Arbeit mit Familiengruppen in ein- bis zweiwöchigen Camps in freier Natur und mit Tiyspaye-Indianern in Süd-Dakota. 1977 gründete sie das Avanta-Network, "a university for becoming more fully human". Ihr Ziel war, Kollegen aus verschiedenen Ländern einzuladen, die sich mit ihrem Welt- und Menschenbild verbinden konnten und bereit waren, diese Ideen zu unterstützen und weiterzugeben. In den siebziger Jahren publizierte die "Group for the Advancement of Psychiatry" einen Bericht über Familientherapie in den USA. Virginia wurde als einflussreichste Therapeutin unter 21 bekannten Namen genannt.
     Sie brachte in ihren Therapien und Seminaren ihren ganz speziellen Genius ein, benutzte Methoden, die sie selbst kreierte und die inzwischen weltweit angewendet werden, wandelte Ideen anderer Therapeuten und Schulen so um, dass sie spielerisch und wohlgeformt zu ihrer Art passten. Deshalb war es nicht immer leicht, ihre angewandte Methode oder Technik zu konzeptualisieren.
     Virginia forderte immer wieder durch ihre einfachen und kraftvollen Fragen heraus. "Wo hast du das gelernt? Wer hat dich das gelehrt? Wann hast du diese Entscheidung gefällt?" Danach erwiderte sie: "Das ist dir nicht angeboren; du hast Wahlmöglichkeiten!"
     Und dann sprach sie von Wachstum, Veränderung, "healing". Jeder Person gab sie Nahrung für ihr Selbstwertgefühl, übermittelte gezielt schlicht gehaltene Informationen - verbal und mit Hilfe von Bildern -, zeigte Perspektiven für die weitere Entwicklung und Arbeit auf. So war sie für jeden nährende Mutter und überzeugende Wegweiserin zu neuen Pfaden.
 

Virginia - die begeisternde und mitreißende Lehrerin

     Virginia verstand sich immer auch als Lehrerin, die anderen Menschen dabei half, humaner mit sich selbst und anderen umzugehen. Wenn sie lehrte, brachte sie Energie, Hoffnung, Humor, Freude, emotionale Wärme, Sicherheit Leichtigkeit, Erregung, Toleranz und Intuition mit. Sie lehrte direkte und klare Kommunikation, stärkte das Selbstwertgefühl einzelner und regte Menschen an, ihre Unterschiedlichkeiten zu honorieren und zu akzeptieren: "Wenn ich aufhöre, andere zu be- und verurteilen, kann ich anfangen, sie zu entdecken."
     Gerade in den letzten Jahren wurde ihr immer wieder vorgeworfen, dass sie keine Theorie bezüglich ihrer Art zu arbeiten entwickelt habe. Es ist richtig: Theoretische Fragen theoretisch zu beantworten oder Theorien vorzutragen, war nicht ihre Stärke. Sie war an Menschen interessiert, an ihrer Kommunikation und ihren Beziehungen. Im Nu brachte sie die Theorie "in Aktion", wandelte das bloße Darüberreden in tun und Erleben. Auf Fragen reagierte sie oft mit dem Satz: "Ich möchte euch etwas zeigen ..." und begann mit Hilfe von Skulpturen und rasch gestellten "Bildern" ihre Antwort zu geben. Dabei begab sie sich meist vollkommen in eine Situation hinein, ging in ihrer Idee auf, war in Trance und bediente sich jeglicher Ressourcen, die sie besaß. Ihre immer wieder neu fesselnde Arbeitsweise basierte auf der einfach klingenden humanistischen Philosophie: "Jeder Mensch ist ein einzigartiges Wunder (basic miracle), in ständiger Entwicklung begriffen und fähig, kontinuierlich zu wachsen, sich zu verändern und zu lernen."
     Vor einer Therapiesitzung mit einer Familie sagte sie zu den beobachtenden Teilnehmern (1987): "Jetzt im Moment repräsentieren die Familienmitglieder all die Erfahrung, die so vorher gemacht haben. So wie sie heute sind, waren sie nicht schon immer. Wenn Menschen zu uns in Therapie kommen, begegnen wir also immer dem, was sie gelernt haben. Und das ist eine ganz wichtige Sache: In der Therapie sollen Menschen lernen, was sie gelernt haben. Erst dann können sie zu lernen beginnen, wie sie sich verändern können um letztlich unterschiedliche Ergebnisse zu bekommen."
  

Virginia - die Regisseurin, Schauspielerin und Komödiantin

     Was sie auch tat, sie war immer "auf der Bühne". Virginia hatte großes Charisma: Alle Augen und Ohren folgten ihr, rasch fühlte sich fast jeder in ihren Bann gezogen, in seinen Empfindungen angesprochen, getroffen, berührt, mit ihr und anderen verbunden und mitgerissen von ihren einfachen, eingängigen Aussagen, Bildern und positiven Umformulierungen. Sie brachte Leichtigkeit und Humor in die Arbeit mit Familien, einzelnen und Gruppen, hatte großes Talent, Witze zu erzählen, zu lachen, Situationen "juicy" und abenteuerlich zu gestalten. Sie war ein Genie in der Inszenierung sowohl komischer als auch tragischer Aspekte einer Familiengeschichte und sie zelebrierte dabei das Spielen signifikanter Szenen mit großer Freude. Während sie über ein Familienereignis in lebhaften Worten und mit Anekdoten verziert sprach, begann sie, den Klienten in eine Skulptur zu formen oder mit Stricken zu umwickeln. Oder zu tun, was immer ihr im Augenblick passend erschien, um metaphorisch zu zeigen, wie ein Mensch in seinem Körper die Einengungen seiner Regeln erfährt. Virginia arbeitete meist im Stehen und räumlich sehr nahe an den Personen. Sie nahm sich die Freiheit, kontinuierlich in Körperkontakt zu sein: Sie hielt ihr Gegenüber an der Hand, spielte mit den Fingern, legte eine Hand auf den Arm, nahm den Kopf zärtlich in ihre Hände und streichelte liebevoll über die Haare oder sie umarmte die Person. Sie hatte bereits vor fünfundzwanzig Jahren - als Frauen noch nicht über den Status wie heute verfügten - den Mut, ihre weichen, weiblichen Teile voll einzusetzen. Schmunzelnd und sich selbst dabei kommentierend, durchbrach sie zahlreiche "therapeutische" Tabus. Welch einen anderen Therapeuten hat man jemals so natürlich und selbstverständlich eng und intensiv beim Klienten gesehen?
 

Virginia - die ausdauernde Entdeckerin

     Sie war eine geduldige, energievolle, Schritt für Schritt vorgehende Therapeutin. Sie hatte die Fähigkeit, minutiöse Details zu sehen und zu hören. Sie vertraute ihrem unfehlbaren Instinkt, der ihr Wege öffnete, die noch kein anderer beschritten hatte. Und es war ihr einzigartiges Geschick, aus losen Teilen ein harmonisches Muster zu weben. Sie sagte einmal über sich: "Meine Techniken sind sehr variabel und davon abhängig, welche Veränderungen notwendig sind. Was ich nicht habe, erfinde ich. ich will meine Arbeit dynamisch, relevant und zeitgemäß gestalten. Meine Theorie und Praxis basieren auf der Idee, dass ich Menschen helfe, ihre Ressourcen zu entwickeln und dass ich Klinikern helfe, dasselbe mit Menschen zu tun, mit denen sie arbeiten."
 

Virginia - die Magierin

     Wenn sie mit einer Familie oder Gruppe arbeitete, konnte sie Verbindungen knüpfen wie keine andere. Bemerkte sie Widerstand, ging sie mit außerordentlichem Geschick "hindurch"; dies geschah oft so rasch und scheinbar ohne Anstrengung, dass manchmal die Grenze zur Magie überschritten schien. Jeder Zuschauer war so in ihren Bann gezogen, ihr Vorgehen im Moment so phantastisch und unbegreiflich zugleich, so dass es gedanklich schwer nachvollziehbar war. Ähnlich zauberhaft gelang es ihr, eine negative Situation oder ein ungünstiges Ereignis in etwas Positives umzuwandeln und gleichsam einen neuen positiven Rahmen zu schaffen.
 

Virginia - die Innovatorin

     Bereits Anfang der sechziger Jahre konnte sie aus einem reichen Erfahrungsschatz schöpfen und entwickelte ihre inzwischen bereits zum Klassiker gewordene Methode der "Familien-Rekonstruktion": Virginia vereinigte in diesem Prozeß Elemente von Psychodrama, Gestalt, Skulpturarbeit, Kommunikation, Hypnose, Phantasie und liebende Fürsorge für den anderen.
 
     All dies stellte sie in den Rahmen der Systemtheorie: Sie war der Ansicht, dass ein Dreigenerationen-Blick nötig sei, um Familiensysteme verstehen zu können. Während der Familien-Rekonstruktion werden Regeln, Mythen, Gefühle von Verbundenheit und Ausgeschlossensein durchsichtig und verständlich gemacht. Der "Star" (die Person, die ihre Familien-Rekonstruktion macht) wird dazu geführt, "blinde Flecken" und Rätsel seiner Familiengeschichte aufzuhellen, das Menschsein seiner Eltern zu verstehen und den Weg zu seinem eigenen Wachstum zu ebnen.
     In den langen Jahren ihres Wirkens entwickelte sie nicht nur eigene neue Arbeitsmethoden, sondern inspirierte auch andere, Neues zu schaffen: Richard Bandler und John Grinder beobachteten wochenlang Videoaufnahmen und live-Sitzungen von Virginia und schälten die spezifischen Elemente und Muster heraus, die zur Veränderung bei Klienten führten. Sie gaben Virginias Magie eine Struktur und schlüsselten die Techniken so auf, dass sie für Therapeuten erlernbar wurden. Virginias Arbeit (und die von Erickson und Perls) bildeten die Grundlagen zur Entwicklung des neurolinguistischen Programmierens.
 

Virginia - die unermüdliche Weltreisende

     In den letzten 20 Jahren bis zu ihrem Tode reiste Virginia fast das ganze Jahr über unermüdlich auf allen Kontinenten, um ihre Ideen über den "humanen Menschen" und den Frieden zwischen den Menschen und den Völkern zu verbreiten. Im Kontakt mit zahllosen Personen in Seminaren von dreißig bis tausend und mehr Zuhörern vermittelte sie ihre Sicht von Familie, Therapie, Wachstum, Kongruenz, Kontakt, Humanität und Selbstwert. Sie gab den Menschen im Auditorium sehr viel von ihrer Person und zugleich tankte auch sie Energien auf, indem sie mit Gruppen arbeitete. Rastlos von einem Land zum anderen, von Kontinent zu Kontinent ziehend, schien es in den letzten Jahren so, als ob sie keinerlei Zeit verlieren wollte. Gleichsam wie eine Missionarin, verbreitete sie ihre Ideen und Lehren und versuchte, möglichst viele Menschen zu erreichen. Dabei hatte sie die Hoffnung, daß dadurch ihre Arbeit weltweit multipliziert und in einigen Jahrzehnten zum Wandel der Gesellschaften vom hierarchischen zum organischen Denken und Handeln beitragen werde.
     Virginia war Beraterin von Organisationen, Institutionen, Politikern und Mitglied zahlreicher Verbände. Im Mai 1987 war sie in Prag Präsidentin des ersten internationalen Familientherapie-Kongresses in einem sozialistischen Land. Ihre letzte große Reise führte sie in die Sowjetunion, so erfüllte sich im Ansatz einer ihrer Wünsche: In den nächsten Jahren wollte sie vermehrt in östlichen Ländern lehren.
 

Virginia - die Schriftstellerin

     Obwohl sie so viel reiste, fand sie zwischendurch noch Zeit, einige Bücher zu schreiben. Allerdings erschienen ihre beiden wichtigsten bereits 1964 und 1972: "Conjoint Familiy Therapy" (1964) ist die Essenz ihrer Pionierjahre 1951 bis 1963, ein Muss für jeden Familientherapeuten; ein Buch, das in den 60er und 70er Jahren sehr dazu beigetragen hat, das Feld für die Familientherapie zu ebnen. "People Making" (1972), das wohl bekannteste unter ihren Büchern, ist eher für Laien geschrieben und legt den Schwerpunkt vor allem auf den Bereich der Kommunikation in der Familie. Kurz vor ihrem Tod ging eine gründlich überarbeitete und um mehrere neue Kapitel erweiterte Neuauflage in Druck: "The New People Making" (1988). 1984 veröffentlichte sie gemeinsam mit Michele Baldwin "Step by Step", ein Buch, in dem ihre therapeutische Arbeit mittels Transkripten deutlich wird. (Weitere Veröffentlichungen: siehe Literaturverzeichnis.)
 

Virginia - die spirituelle Frau

     Manchem Teilnehmer erschien es ungewöhnlich, dass in einem familientherapeutischen Seminar das Thema Spiritualität angesprochen wurde. Virginia glaubte, dass Spiritualität unsere Verbindung mit dem Universum darstelle und die Grundlage unserer Existenz sei. Sie verstand Wachstum als eine Manifestation des Geistes und als eine sich selbst offenbarende Lebenskraft. Sie war davon überzeugt, dass Menschen an der universellen Intelligenz und Weisheit durch Meditation, Gebet, Entspannung, Bewusstsein, Entwicklung eines hohen Selbstwerts und Ehrfurcht vor dem Leben teilhaben können. Mit Hilfe Ihrer Meditations- und Zentrierübungen leitete sie Teilnehmer an, innere Ruhe zu finden, sich selbst Anerkennung zu geben und positive neue Lebensansätze zu entwickeln.
 

Virginia - die visionäre Friedensarbeiterin

     Seit Mitte der siebziger Jahre ist Virginia in ihrer Arbeit über die Familientherapie hinausgegangen. Sie verknüpfte ihre therapeutischen Ideen mit Anliegen des Human Potential Movement und der Friedensbewegung. Ihre Vision war der Weltfrieden und sie verstand ihre Arbeit als Friedensarbeit. Manche Kollegen kritisierten und belächelten Virginia wegen ihres Engagements und warfen ihr vor, die Familientherapie im Stich gelassen zu haben. Doch ihre These war einfach und logisch:
"Wenn wir unsere Kinder in einem friedlichen Kontext erziehen, in dem die Erwachsenen kongruentes Verhalten vorleben, dann werden die Kinder friedfertige Erwachsene werden, die ihrerseits eine friedvolle Welt schaffen werden. Die Herausforderung unserer Zeit besteht vor allem darin, alte Muster zu unterbrechen, die zum Unfrieden zwischen Menschen und Völkern geführt haben. Wir sollten unsere Energien nutzen und neue Muster entwickeln, mit denen wir uns gegenseitig unterstützen können. Der Krieg als Mittel zur Konfliktlösung gehört jetzt ins Museum."
 

Virginia - die bescheidene Frau aus Wisconsin

     Trotz  ihrer Berühmtheit war sie bescheiden und dankbar für jede kleine Aufmerksamkeit. Sie ließ sich wenig Ruhe und konnte nur schwer nein sagen, wenn jemand Hilfe und Zeit von ihr wollte. Manchmal hatte dies auch zur bitteren Folge, dass andere sie ausnutzten oder ihren Namen missbrauchten. Sie wusste dies, fühlte sich verletzt, wollte aber damit nicht umgehen.
     Liebend gern ging sie einkaufen, ob es sich nun um die Suche nach ganz bestimmten Knöpfen handelte oder um schöne Stoffe. Manche ihrer Kleider nähte sie selbst. Wir haben kein Seminar mit ihr erlebt, wo sie nicht abends an irgendeinem Rock oder einer Bluse Änderungen anbrachte.
     Wenn sie bei uns war, entspannte sie sich, indem sie im Garten jätete, Pflanzen trimmte, Hemden bügelte, in der Küche half und sich für Kochrezepte interessierte. Sie legte Patience, praktizierte Atem- und Jogaübungen, ließ sich gern massieren und genoss "sightseeing". Zeitweise war die Unterhaltung mit ihr anstrengend, weil sie viel und intensiv erzählen konnte und unversehens wieder weiterlehrte. Zwischendurch sprach sie davon, wie einsam sie sich manchmal fühlte, ohne Partner, ohne Familie. Irgendwann in der Zukunft wollte sie das ändern; doch wenn sie dies sagte, wusste jeder, dass es eine Illusion war. Sie war sich bewusst, dass dies ein Teil des hohen Preises war, den sie für ihre rastlose Lehrtätigkeit zahlen musste.
 

Virginias Vermächtnis

     Virginia hat eine Vielzahl von Techniken und Methoden geschaffen und für die Familientherapie nutzbar gemacht: Ihre Kunst des Reframings, Darstellung von Kommunikationsformen, Skulpturarbeit, Regeltransformation, Selbst- und Fremdwahrnehmungsübungen, Zentrierübungen, Meditationen, die Konzepte über Selbstwert, Wachstum, Triaden, Familien-Rekonstruktion, Parts Party. Diese Schätze sind inzwischen feste Bestandteile des Repertoires nicht nur Satirscher Familientherapeuten geworden. Vorherrschend bleibt jedoch für alle, die sie erleben, nicht das Was, sondern das Wie ihrer Arbeit. Ihr Respekt vor Menschen, ihr Bemühen, den Selbstwert eines jeden zu stärken und Kontakt zwischen Menschen herzustellen, das Vertrauen in die Macht kongruenter Kommunikation, wird ideell weiterwirken. In einem Seminar sagte sie: "Wenn ich eine Botschaft habe, eine Botschaft, die ich an so viele Menschen wie möglich weitergeben möchte, bevor ich sterbe, so ist es diese: Ein Ereignis bestimmt nicht allein, wie ich darauf reagiere. Jeder kann Wahlmöglichkeiten des Reagierens lernen, die ein Ereignis beeinflussen und lenken können. Das heißt, daß der Umgang mit einem Ereignis ausschlaggebend ist und nicht das Ereignis an sich."
     Ihr Buch "Your Many Faces" (1975) endet mit der Ermutigung: "Ich wünsche Dir alles Gute auf Deinem Weg, das Wunder, das Du bist, immer wieder neu zu entdecken. Ich sende Dir liebende und fürsorgliche Botschaften, die Dich ermutigen sollen, immer wieder aufs Neue Risiken in Deiner Entwicklung einzugehen."
 
1969 schrieb sie an ihren Bruder:
     "Wenn ich morgen gehen sollte, möchte ich, dass Du und die anderen Familienmitglieder sich treffen, ein Fest feiern und sich mehr darüber freuen, dass ich gelebt habe als zu trauern, dass ich gestorben bin." Ihre Abschiedsworte einige Tage vor ihrem Tod waren: "--- mein Leben ist reichhaltig und erfüllt gewesen und so kann ich mit dem Gefühl großer Dankbarkeit gehen. "Wir fühlen uns mit Virginias Arbeit und mit ihrer Art und Weise, mit Menschen umzugehen, tief verbunden. In unseren jahrelangen Kontakten mit ihr, haben wir neben den hier vorgehobenen Teilen auch andere kennengelernt: Ihren Widerwillen, mit Ärger umzugehen, manche Unzulänglichkeiten in ihrem eigenen Leben, ihre Rastlosigkeit. Doch all dies war zweitrangig: Virginia gehörte dem Universum und sie konnte vieles nicht auf "normale" Weise machen. Sie hatte den Mut, unbekannte Wege zu beschreiten; und immer brachte sie neue Schätze zutage. Die Erinnerungen an ihre Lebensfreude, Kraft und Kreativität werden unser Leben und unsere Lehre weiterhin inspirieren.
  
   
Literatur:
Satir, V. (1964, 1967, 1983): Conjoint Family Therapy. A Guide to Theory and Technique. Palo Alto, Cal.: Science and Behavior Books.
Deutsch: (1979) Familienbehandlung. Kommunikation und Beziehung in theorie, Erleben und Therapie. Freiburg: Lambertus-Verlag.
-,(1970, 1975): Self Esteem, Berkely, Cal.: Celestial Arts.
Deutsch: (1988) Grund zum Feiern! Ein Gedicht mit Bildern über dich, mich, uns alle. Wessobrunn: Integral Verlag.
-, (1972): People making. Palo Alto, Cal.: Science and Behavior Books.
Deutsch: Selbstwert und Kommunikation. München: Pfeiffer-Verlag.
-, (1976): Making Contact. Berkely, cal.: Celestial Arts.
-, (1978): Your Many Faces. The First Steps to Being Loved. Berkely, Cal.: Celestial Arts.
Deutsch: (1988) Meine vielen Gesichter. Wer bin ich wirklich? München: Kösel-Verlag.
-, Baldwin, M. (1984): Step by Step. A Guide to Creating Change in Families. Palo Alto: Science and Behavior Books. Deutsch: (1988) Familientherapie in Aktion. Paderborn: Junfermann-Verlag.
-, (1985): Meditations & Inspirations. Berkeley, cal.: Celestial Arts.
-, (1988): The New People Making. Mountain View, Cal.: Science and Behavior Books.
   
Die Zitate entstammen aus persönlichen Mitteilungen und eigenen Mitschriften in Seminaren des Münchner- Familienkollegs: 10 Tage Familien-Rekonstruktion mit V. Satir (1983, 1985, 1987).
Das Zitat von John Weakland stammt aus dem Fernsehfilm "Virginia Satir: Die fünf Freiheiten" in der Reihe "Wege zum Menschen", Südwestfunk Baden-Baden 1983.
 
 
 
 

Gaby Moskau, Gerd F. Müller (Hrsg.)

Vorwort zu

"Virginia Satir - Wege zum Wachstum.
Ein Handbuch für die therapeutische Arbeit
mit Einzelnen, Paaren, Familien und Gruppen."

Quellenangabe:
Dieser Artikel erschien in
Gaby Moskau, Gerd F. Müller (Hrsg.):
Virginia Satir - Wege zum Wachstum.
Ein Handbuch für die therapeutische Arbeit mit Einzelnen, Paaren, Familien und Gruppen. Junfermann-Verlag Paderborn, 1992.

     Dieses Buch ist in Erinnerung an Virginia Satir (1916-1988) entstanden. Wir lernten Virginia 1974 kennen und in den folgenden 14 Jahren kreuzten sich unsere Wege immer wieder, in den USA, in Kanada, Israel und Europa. Dabei entwickelten wir uns von staunenden Bewunderern ihrer Magie zu kritischen Beobachtern ihrer Arbeit, von Lernenden zu mit ihr Lehrenden. Mit der Zeit wuchs zwischen uns eine freundschaftliche Beziehung, die bei jedem erneuten Zusammentreffen, wie nach einer kurz unterbrochenen Unterhaltung, weitergesponnen wurde.
     Virginia Satirs Platz in der Familientherapie "ist außergewöhnlich und einzigartig" (Hoffmann 1982, S. 226): Sie war die berühmte Sozialarbeiterin, die in den 50er Jahren als einzige Frau in einer medizinischen und wissenschaftlichen Männerwelt den Mut hatte, neue Wege der Therapie zu beschreiten. In den siebziger Jahren publizierte die "Group for the Advancement of Psychiatry" einen Bericht über Familientherapie in den USA. Damals wurde Virginia als einflussreichste Therapeutin unter 21 bekannten Namen genannt.
     Ein Leben lang war sie darum bemüht, Verbindungen zwischen Menschen zu schaffen und Veränderungen in Individuen, Familien, Gruppen, der Gemeinschaft und auf internationaler Ebene zu bewirken. 1981 wollte sie mit Israelis und Arabern arbeiten, doch dieses Anliegen konnte leider nicht verwirklicht werden. Einer ihrer großen Wünsche, in der UdSSR zu lehren, erfüllte sich anlässlich ihrer letzten Reise im Sommer 1988 kurz vor ihrem Tod. Laura Dodson, die Autorin des Kapitels "Der Prozess der Veränderung" begleitete sie damals und führt Virginias Arbeit heute in der GUS fort. Eine ausführliche Würdigung Virginias ist in Müller und Moskau (1989) zu finden.
     Beeinflusst vom Human Potential Movement der sechziger Jahre, glaubte Virginia, daß das Konstrukt Liebe (Otto 1972, S. 9) essentiell für den Prozess der Arbeit mit Menschen ist. Sie war der Meinung, daß Menschen Manifestationen positiver Lebensenergien im Sinne Kierkegaards, Heideggers und Bubers sind, und dass diese Energien aktiviert werden können, um dysfunktionale Verhaltensweisen zu transformieren. In jeglichem Verhalten - und sei es noch so destruktiv - erkannte sie einen positiven Kern, den sie freizulegen suchte. Sie vertrat die Ansicht, dass unsere Welt auf einem hierarchischen Ursache-Wirkung-Denkmodell beruht, das linear, einengend, verurteilend und bestrafend ist und keinen Raum für persönliche Entwicklung zulässt. Aufgrund dieser Überlegungen entwickelte sie ihr systemisches "Wachstumsmodell", um die Einzigartigkeit eines jeden Menschen im Kontext zu würdigen. Das Wachstumsmodell bezieht sich auf die Prinzipien Gleichwertigkeit (equality) von Menschen, Wertschätzung und einer lebenslang währenden Fähigkeit zur Veränderung: Menschen können ihren Selbstwert aus dem Vertrauen in den Prozeß der stetigen Veränderung und des persönlichen Wachstums gewinnen. Auch wenn äußerer Wandel durch ungünstige Umstände begrenzt ist, gibt es die Möglichkeit zur inneren Veränderung. Jeder Mensch besitzt bereits alle Ressourcen, die er benötigt, um sich zu entwickeln und zu wachsen. Die Aufgabe des Therapeuten ist es, die Quellen freizulegen. Menschen sind von Natur aus gute Wesen. Diese Grundüberzeugungen leiteten Virginia, den Fokus ihrer Arbeit immer auf die Nutzung positiver Energien, Gesundheit, Entwicklung von Wahlmöglichkeiten und kongruente zwischenmenschliche Kommunikation zu legen. Virginia hat die Familientherapie um eine Vielzahl von Interventionen bereichert: Ihre Kunst des Reframings, Familien-Rekonstruktion, Parts Party, Skulpturarbeit, Regeltransformation, die Darstellung der fünf Kommunikationsformen, Selbst- und Fremdwahrnehmungsübungen, Zentrierübungen, Meditationen, die Konzepte über Selbstwert, Wachstum, Triaden, Kongruenz. Vieles davon hat inzwischen auch in das Repertoire nicht nur Satirscher Familientherapeuten Eingang gefunden.
     Virginias vorrangiges Bestreben war es, Menschen zu befähigen, ihre eigenen Kräfte in Besitz zu nehmen, ihren Selbstwert zu erhöhen und den direkten, authentischen Ausdruck von Gedanken und Gefühlen in der systemischen Interaktion im Hier und Jetzt zu fördern. Sie sprach von der Wichtigkeit, auch kognitive Fähigkeiten anzuerkennen und zu nutzten; oft sagte sie, um dies hervorzuheben: "From my head to yours"... und berührte dabei sowohl ihre Stirn als auch die des Protagonisten. Virginia versuchte stets, anderen neue Sichtweisen über sich und die Welt zu eröffnen, "Dinge anders zu betrachten", "unter einem neuen Gesichtspunkt zu sehen" oder "andere Faktoren ins Kalkül zu ziehen" (Andreas und Andreas 1985, S. 14). Der "Rahmen" wird also verändert, innerhalb dessen der Protagonist Ereignisse wahrnimmt, so daß den Ereignissen eine andere Bedeutung gegeben werden kann. Dieses Reframing (Bandler und Grinder 1985) hat Virginia zur hohen Kunst in der Familienrekonstruktion und Parts Party entwickelt.
     Vorherrschend bleibt jedoch für alle, die sie erlebten, nicht das Was, sondern das Wie ihrer Arbeit: sie begegnete jedem mit Gefühl, Wärme und Zuversicht. Ihr sprühender Humor, ihr "Showmanship", ihr unermüdlicher Einsatz und ihre Vielseitigkeit waren legendär. Sie konnte Bitten um Unterstützung nur schwer abschlagen und arbeitete häufig bis zum Rande der Erschöpfung.

     Doch sie ist auch immer wieder kritisiert worden: Ihre Konstrukte wurden als zu vage und als nicht operationalisierbar bemängelt. Doch dem stellte Virginia entgegen: "Es gibt wesentlicheres im Leben (und in der Therapie) als das, was gemessen und beobachtet werden kann" (Satir 1983). Virginia war Praktikerin und an Forschung kaum interessiert. Sie war sehr belesen und integrierte Ideen verschiedener theoretischer Richtungen auf originelle und kreative Weise in ihre Arbeit. Authentische persönliche Erfahrungen, die sie in ihrer Arbeit initiierte, lassen sich nicht direkt messen; die anschließende Befragung oder Testung gibt nicht das wirkliche "encounter"-Erlebnis wider. Trotz alledem: Es ist dringend angezeigt, ihre und die Konzepte anderer wachstumsorientierter Therapeuten (Whitaker, Kempler, Bowen) empirisch zu überprüfen. Ansonsten bleibt möglicherweise nur die Erinnerung an einmalige Schöpfungen der mit Mystik umgebenen Primadonnen ihres Fachs.
     Kreativität, Spontaneität, Klugheit und rasche Auffassungsgabe sind sicher die meist erwähnten Stärken von Satir, die zugleich auch Herausforderungen an den wachstumsorientierten Therapeuten darstellen. Ihre Interventionen und Werkzeuge erfordern auf Seiten des Therapeuten die Bereitschaft und Fähigkeit, sich aktiv, direkt und persönlich am systemischen Prozess zu beteiligen. Das setzt voraus, dass er sorgfältig darauf achtet, die eigene Person weiter zu entwickeln, eigene Stärken anzuerkennen und sie zu benutzen. Desgleichen ist das Wissen über die "Fallen" des eigenen Ursprungssystems und der "blinden Flecken" notwendig, um sich als Instrument zur Begleitung des Veränderungsprozesses optimal nutzen zu können. Wir stellen in diesem Buch einige der therapeutischen Interventionen dar, die Virginia hinterlassen hat. Dabei sind wir uns bewusst, dass eine eindimensionale Darstellung niemals Satirs Präsenz und das eigene Erleben ersetzen kann, und dass die Beiträge der Komplexität und dem Detail ihrer Interventionen nur annähernd gerecht werden können.
     Alle Autoren haben Virginia persönlich erlebt, manche über viele Jahre, andere bei einzelnen Seminaren, die sie in Europa und den USA veranstaltete. Die verschiedenen Beiträge reflektieren die Umsetzung der Satirschen Ideen in die jeweilige Praxis der Autorin oder des Autors.
     Wir möchten mit einem Zitat von Steve Andreas schließen: "Zu großartiger Arbeit bedarf es sowohl der Werkzeuge des Berufsstandes als auch der Vision und der Menschenliebe, diese Werkzeuge passend einzusetzen. Virginia Satir demonstrierte eine außerordentliches Maß von beidem. Wenn wir ihren Genius ehren wollen, weiß ich keinen besseren Weg, als ihre Arbeit sorgfältig zu studieren und daraus zu lernen, was sie auf so wunderbare Art machte" (Andreas 1991. S. XVII; Übersetzung v.d.Hrsg.).


Einige Grund-Überzeugungen von Virginia Satir

  • Wachstumsorientierte Therapie fokussiert auf Gesundheit und Wahlmöglichkeiten, anstatt auf Pathologie.
  • Menschen sind grundsätzlich gut. Damit sie sich mit ihrem eigenen Selbstwert verbinden können, brauchen sie Zugang zu ihrem inneren Selbst, zu ihren inneren Schätzen.
  • Der Prozess ist der Weg zur Veränderung. Inhalt ist der Kontext, in welchem Veränderung stattfindet.
  • Wir haben alle notwendigen Ressourcen, um wachsen zu können.
  • Wir sollten nicht nach Fehlern suchen, sondern nach Erweiterungsmöglichkeiten.
  • Wir können die Vergangenheit nicht verändern, doch deren heutige Auswirkungen.
  • Eltern sind Lehrer von Menschen, nicht Besitzer.
  • Eltern wiederholen oft die vertrauten Muster der eigenen Kindheit, auch wenn diese Muster dysfunktional sind.
  • Gesunde menschliche Beziehungen beruhen auf Gleichwertigkeit.
  • Hoffnung ist ein signifikantes Element für Veränderung.