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MFK - Info
Perspektiven - Ideen - Diskussion
Informationen des Münchner Familienkollegs
Nr. 1 / 96, 5. Jahrgang
© 1996 by Münchner Familienkolleg 

     
Zusammenfassung eines Artikels von James L. Framo:
"Eine persönliche Retrospektive der Familientherapie - damals und jetzt."
         
von Gaby Moskau

   
Vorbemerkung:
Der Artikel basiert auf einem Vortrag, den James Framo 1994 in Chicago gehalten hat. Ich habe einige Teile herausgegriffen und zusammengefaßt. Ich empfehle allen, die Interesse haben, den Artikel in seiner Ganzheit zu lesen (allerdings nur auf Englisch) - im "Journal of Marital and Family Therapy", Vol.22, No.3, Juli 1996, S. 289-316. Viel Spaß beim Lesen, Gaby.

Framo beginnt den Artikel mit der Bemerkung, daß er vor einiger Zeit gestutzt habe, als er in einem Artikel las, daß die Arbeit von Nathan Ackerman, Murray Bowen, Ivan Boszormenyi-Nagy und von ihm als "etwas viktorianisch" beschrieben wurde. Werden die Begründer der Familientherapie so gesehen wie der von Pferden gezogene Wagen? Diejenigen, die seine Arbeit kennen, wissen, daß er an die heilenden Kräfte der Vergangenheit glaubt und daß Wissen über die Geschichte, die Gegenwart verständlich macht. - Familientherapie ist keine Technik und kein Subsystem von Psychiatrie, Psychologie oder Sozialarbeit, sondern ein eigenes Berufsfeld, mit eigenem konzeptuellen Modell, Methoden des Lehrens, der Behandlung und Forschung. Zur Erinnerung: der traditionelle Weg der Diagnose und Behandlung emotionaler Probleme ist noch immer in der Macht des Gesundheitswesens, unterstützt von deskriptiver Psychiatrie (DMS), klinischer Psychologie, biologischer Psychiatrie, den Versicherungsanstalten und den Gesetzen, die mentale Krankheiten bestimmen.
     Framo beschreibt dann die Anfänge der Familientherapie um 1957 und geht über die 60er bis in die 70er Jahre. Letztendlich schreibt er über das Blühen des familientherapeutischen Ansatzes und die Jahre der Konsolidierung von den 80er bis in die 90er Jahre. Am Ende dieser Geschichte bemerkt er, daß er seine persönliche Beurteilung der Entwicklung der Familientherapie zu diesem Zeitpunkt beitragen möchte.
   
Die positiven Entwicklungen
Framo begrüßt die "Wegbewegung" von pathologisierenden Verhaltensweisen und die Hinbewegung zu adaptiven, selbstkorrigierenden Mechanismen in Individuen und Familien. Er bezieht sich auf Wolins2 Arbeit: die Betrachtung der Durchhaltefähigkeit von Individuen aus Familien mit Problemen hat einen optimistischen Ausblick eröffnet - eine Gegenposition zu der Ansicht, daß Menschen, die aus Problemfamilien stammen, dazu verurteilt sind, emotionale Krüppel zu werden. Wolin zeigt auf, daß das DSM IV auf 800 Seiten psychische Krankheiten beschreibt - auf keiner einzigen Seite werden Stärken und Widerstandskräfte von Menschen erwähnt. Der Wechsel vom "Schadenmodell" zum Ressourcenmodell" bedeutet einen tiefgründigen konzeptionellen Wechsel bezogen auf das Denken über emotionale Geistesstörungen/ Krankheiten. Die Betonung des Positiven ist nicht dasselbe, wie das Modell der "Positiven Lösungen".
- Die wahrscheinlich wertvollste Technik ist das "Reframing" (Satir war darin Meisterin).
- Die Einbeziehung größerer Systeme, gesellschaftlicher und kultureller Streßfaktoren (Arbeitslosigkeit, Armut, Kriminalität). (Satir und Bowen haben sich frühzeitig über die Familie hinaus dem "breiteren" Kontext zugewendet.)
- Eine Fülle neuer Techniken haben das therapeutische Feld bereichert: Videoplayback, Reflecting Team, Rituale, Hypnose, Geschichten, Aufgaben u.a.
- Ein wachsendes Interesse an den heilenden Kräften der Spiritualität ist entstanden.
- Die Arbeit mit nicht traditionellen Systemen, wie Single-Eltern-Familien, Stieffamilien, gleichgeschlechtlichen Partnerschaften reflektiert gesellschaftliche Veränderungen.
- Der Feminismus hat die Ungleichheit der Machtverteilung aufgegriffen. Diese Beobachtungen waren "Augenöffner" und appellierten an das Gewissen.
  
Die negativen Richtungen
Framos erste Kritik: Wenn die Geschichte der Familientherapie unter die Lupe genommen wird, fällt auf, daß jede Richtung oder Technik "in" war - und jede/r stellte sich darauf ein, bis die nächste "heiße" Theorie oder Behandlungsform auftauchte: Satir, Bowen, Transaktionsanalyse, soziale Netzwerke, NLP, struktureller, paradoxer, strategischer Ansatz, die Mailänder Schule, die Konzepte von Bateson, Ericksons Methoden, Maturana, Skulpturen, Reflecting Team. - Jetzt sind Geschichten, Geschlechtszugehörigkeit, Kultur, Konstruktivismus "in". Natürlich haben alle diese Konzepte ihren Wert, aber momentan gibt es eine Tendenz, die verbreitet: "Was alt ist, kann man wegwerfen."
- Framo schreibt, daß er - wenn er über die neue Epistemologie und Postmoderne liest - manchmal das Gefühl bekommt, daß im Feld mehr Interesse für Ideen als für Menschen vorhanden ist. Die Theoretiker - so scheint es ihm - sind mehr daran interessiert, andere Theoretiker von ihren Ideen zu überzeugen, als daß sie versuchen, die Konzepte klinisch zu verwerten. Manchmal führt das abstrakte Philosophieren weit weg von Familienleben. Framo würde sich viel besser fühlen, wenn Familientherapeuten sich mehr um theoretische Konzepte kümmern würden, anstatt sich an Mathematiker und Biologen zu wenden, die erklären, was sie in Familien sehen. Er fragt, ob Maturana je mit einer Familie gearbeitet habe, in der sexueller Mißbrauch vorkam?
- Die Geschlechterrollen: die heutigen familientherapeutischen Weiterbildungsprogramme enthalten meist Kurse bezogen auf Geschlechtersensitivität. Wie oft wird Sensitivität gegenüber beiden Geschlechtern gelehrt?
- Familien sind keine kybernetischen Maschinen. Familien können tiefste Befriedigung bringen - haben aber auch dunkle Seiten: Geheimnisse, Neid, Eifersucht, die "guten" und "schlechten" u.s.w.
  
Einige Dinge, die Framo gelernt hat und einige Vorschläge
- Nur Anfänger glauben, sie können allen Menschen helfen. Es gibt viele Gründe für Mißerfolge - hier nur einige:
Manche Menschen wollen ihre Zeit anders nützen, manchmal können wir keinen Kontakt zu Klienten schaffen - oder sie zu uns. Manche Klienten mögen wir nicht - manche mögen uns nicht. Von Zeit zu Zeit machen alle Therapeuten Fehler - diese sollten Klienten offen mitgeteilt werden.
- Wenn eine Familie Hilfe möchte, ist es gut zu fragen: Weshalb kommt die Familie jetzt - obwohl das Problem schon seit einiger Zeit existiert? Welche Veränderungen haben in der Familie (im Kontext) stattgefunden, daß das Symptom antisystemisch macht?
- Wenn man keine Mutter oder keinen Vater hatte, ist es schwierig eine/r zu sein.
- Wenn ein Paar Schwierigkeiten hat und wenn nur einer der Partner in Therapie geht, ist die Chance einer Scheidung erhöht.
- Niemand kann jemals die "wahre Wahrheit" über eine andere Ehe haben - weder Therapeuten noch die Partner selbst.
- Systematische Studien stimmen mit der klinischen Erfahrung überein, daß Männer und Frauen anders denken. Der beste Schutz gegen Geschlechtervoreingenommenheit in der Therapie ist, Paare und Familien mit einem Mann-Frau-Kotherapie-Team zu behandeln.
- Framo glaubt, daß die Natur der Beziehung zwischen Klienten und Therapeut/in der kritische therapeutische Faktor in der Psychotherapie ist - es scheint ihm, daß dies im heutigen Klima der schnellen "high-tech"-Prozeduren ignoriert wird.
- Wenn mit Individuen gearbeitet wird, ist es wichtig, Familien-Systemtheorie im Hinterkopf zu haben.
 
Bemerkungen über einige frühe Pioniere
Jay Haley hat das Feld stark beeinflußt. Jay ist, mit Frank Pittman und Ronald D. Laing, einer der besten Autoren im Feld.
Virginia Satir hat mehr über Familiendynamik gewußt als alle anderen. Ihr unbeugsamer Optimismus bezogen auf Menschen, ihre bedeutsamen heilenden Qualitäten und ihre empathischen Fähigkeiten sind unübertroffen.
Nathan Ackerman war der erste Pionier, der es riskierte, vom psychiatrischen und psychoanalytischen Establishment abgelehnt zu werden. Er war ein herausragender Klinker und Therapeut. Heutige Familientherapeuten könnten viel von seinen Beiträgen lernen.
Murray Bowen lebte seine Theorie. Er hatte hoch gesteckte Ziele: die Entwicklung einer zusammenfassenden Theorie über natürliche Systeme. Er befaßte sich mit der fundamentalen Frage: Wie kann man mit der Verrücktheit der eigenen Familie umgehen, ohne sie aufzugeben?
Carl Whitaker traute sich, "anders" zu sein und zahlte einen professionellen Preis für seine kreativen Bemühungen, den Unsinn zu durchkreuzen, der traditionelle Psychotherapie umgibt. Manchmal hat er - wie Sinatra - daneben getroffen, aber wenn er "da" war, konnte niemand ihn erreichen. Er war ein wundervoller, scheuer Mensch.
Ivan Boszormenyi-Nagy: Framo hat 13 Jahre mit ihm zusammengearbeitet, und 1965 mit ihm gemeinsam einen der ersten Klassiker im Feld geschrieben. Das einzige Buch über Familientherapie, das damals bereits erschienen war, ist Satirs "Conjoint Family Therapy" von 1964. Framo und Boszormenyi-Nagy haben viele Stunden verbracht, um über Theorie und Behandlungsmethoden zu reden. Framo meint, daß die elegante kontextuelle Theorie von Boszormenyi-Nagy mit der Zeit mehr Anerkennung bekommen wird und daß sein Beitrag, genau wie die Theorie von Bowen, von dauerndem Einfluß sein wird.
  
Abschließende Bemerkungen
Framo schreibt: Ich realisiere, daß das Feld sich verändert hat und dieser Artikel als ein nostalgischer Anachronismus angesehen werden kann. Ich glaube daran, daß viele der alten Entdeckungen über Familiendynamik und Familiensystemtheorie gültig und dauerhaft sind. Wenn ich über meine 35 Jahre im Feld blicke, möchte ich sagen: "Ich habe meine Zeit gehabt. Jetzt ist eure Zeit." þMFK-Info
  
Einige Literaturangaben:
Boszormenyi-Nagy, I., Spark, G. (1981): Unsichtbare Bindungen. Die Dynamik familiärer Systeme. Stuttgart: Klett.
Haley, J. (1977): Direktive Familientherapie. Strategien für die Lösung von Problemen. München: Pfeiffer.
Napier A., Whitaker C. (1979): Tatort Familie. Köln: Diedrichs-Verlag. Neuauflage (1982): Die Bergers. Hamburg: Rororo 7652.
Satir, V.(1979): Familienbehandlung. Kommunikation und Beziehung in Theorie, Erleben und Therapie. Freiburg: Lambertus-Verlag.
  
Anmerkung:
Wir geben die Erlaubnis zum Download dieses Artikels, bitten jedoch darum, bei weiterer Verwendung jeglicher Art, unbedingt das Copyright einzuhalten.