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Was ist narrative Therapie?
Eine knappe Antwort
  
Mit freundlicher Genehmigung durch die Herausgeberin der Publikationsreihe, Cheryl White,
übersetzt und zusammengefaßt von Gaby Müller-Moskau, Münchner FamilienKolleg, 2000:
  
Erik Sween: „The One Minute Question: What is Narrative Therapy,“
in „Extending Narrative Therapy, a Collection of Practice-based Papers“ collected by
Dulwich Centre Publications, Adelaide, Australia, 1999, 191 - 194.

 
 

  
1.
Wenn narrative Therapie eine Überschrift hätte, würde diese lauten: „Die Person ist nie das Problem, das Problem ist das Problem.“ Diese Phrase spiegelt die Wichtigkeit dessen wider, was      eine Person ist, unabhängig von ihren Umständen. Narrative Therapie bedeutet, daß diejenigen Momente des Lebens einer Person exploriert werden, die wegweisend waren: die wichtigsten Beziehungen und die Ereignisse, welche nicht von der Zeit „verwischt“ wurden. Der Fokus wird auf Intentionen, Träume und Werte gelenkt, die das Leben einer Person geleitet haben, unabhängig von Rückschlägen. Oft bringt der Prozeß wieder Geschichten zu Tage, die übersehen wurden – überraschende Geschichten, die von vergessenen Kompetenzen und Heldentum sprechen.
 
2.
Jede Art von Psychotherapie hat ihre je eigene Besonderheit, wie verschiedene Aspekte des Lebens als Basiserfahrungen definiert werden. So fokussiert Verhaltenstherapie auf Verhalten, kognitive Therapie auf logisches Denken, systemische Therapie auf Familieninteraktionen. Narrative Therapie meint, daß die Geschichten die Basiserfahrungen sind. Geschichten bestimmen, wie sich Menschen verhalten, wie sie fühlen und wie sie Sinn aus neuen Erfahrungen machen. Geschichten organisieren die Informationen über das Leben einer Person. Narrative Therapie fokussiert auf die Art und Weise, wie wichtige Geschichten „geschrieben“ und neu-geschrieben werden.
 
3.
Narrative Therapie meint, daß Menschen bestimmte Geschichten über sich wie die Linse an einer Kamera benützen. Diese Geschichten haben den Effekt, daß sie die Erfahrung einer Person „filtern“ und auf diese Art und Weise bestimmen, welche Informationen fokussiert werden und welche nicht. Diese Geschichten formen die Perspektiven, die Menschen über ihr Leben, ihre Vergangenheit und Zukunft haben. Trotz vorhandener konträrer Informationen, sind diese Geschichten über Identität außerordentlich stabil. Narrative Therapie öffnet einen Weg, so daß die Linse der Kamera re-fokussiert werden kann und dabei hilft, das Leben und die Geschichten von Menschen neu zu gestalten.
 
4.
Als Menschen sind wir unvermeidlich „Bedeutungsgeber“. Wir machen eine Erfahrung und geben ihr eine Bedeutung. Und seit jeher haben wir Geschichten erzählt. Geschichten sind die vertrauteste Art der Kommunikation; die Bedeutung finden wir in unserer Erfahrung. Narrative Therapie interessiert sich für die Geschichten, nach denen wir leben – die Geschichten, die wir in uns tragen, wer wir sind und was am wichtigsten für uns ist. Narrative Therapie bedeutet, diese Geschichten „auszugraben“, sie zu verstehen und sie anders erzählen.
 
5.
Viele Formen der Psychologie und Therapie legen sehr großen Wert auf den Prozeß der Individuation. Individuen – so wird geglaubt – konstruieren ihre innere Welt fast eigenständig. Narrative Therapie liefert einen Kontrast zu dieser Perspektive: Im Rahmen der narrativen Therapie wird die Ansicht vertreten, daß Identität sowohl durch die Beziehung mit anderen Menschen als auch durch die persönliche Geschichte der eigenen Vergangenheit und Kultur ko-kreiert wird. D.h., daß die Art und Weise, wie andere uns sehen, genau so viel zu unserer Identität beitragen kann, wie wir uns selbst in einer bestimmten Weise sehen. Wir sehen uns also in den Spiegeln, die andere Menschen uns vorhalten. Folglich wird also die Identität einer Person sozial konstruiert. Narrative Therapie fokussiert auf das Ausmaß, inwieweit solcherlei sozial konstruierte Wirklichkeit für diese Person „paßt“.
 
6.
Narrative Therapie besteht aus dem Verstehen der Geschichten oder Themen, welche das Leben von Menschen geformt haben. Was hat von all den Erfahrungen, die Menschen gelebt haben, für sie die meiste Bedeutung gehabt? Welche Wahlmöglichkeiten, Intentionen, Beziehungen waren am wichtigsten? Narrative Therapie nimmt an, daß nur diejenigen Erfahrungen, welche Teil einer „größeren Geschichte“ sind, einen signifikanten Einfluß auf die gelebte Erfahrung haben. Deshalb fokussiert narrative Therapie auf den Aufbau einer Handlung, welche das Leben von Menschen verbindet.
 
7.
Das Leben von Menschen wird durch unsichtbare „Geschichtslinien“ durchkreuzt. Diese „nicht gesehenen“ Geschichtslinien können eine enorme Macht beim Ausformen des persönlichem Lebens entfalten. Narrative Therapie beinhaltet den Prozeß, „nicht gesehene“ Linien ans Licht zu bringen und zu verstärken. Fragen werden dazu benützt, um darauf zu fokussieren, was im Leben einer Person am bedeutungsvollsten war, z.B. Intentionen, einflußreiche Beziehungen, „Wendepunkte“, Erinnerungsschätze, und wie alle diese Begebenheiten miteinander verbunden sind.
  
   
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